Ergreifend, unvergesslich. Bilder von Schmerz, Stille und tiefer Anteilnahme, wenn während der Karwoche in Spanien Büßer in langen Gewändern durch die Straßen ziehen. „Nazarenos“ heißen sie auf Spanisch. Manche gehen barfuß, tragen Kerzen, Kreuze und Standarten.
Oft verhüllen spitze Kapuzen die Gesichter und Köpfe, so dass man fast an einen berüchtigten Geheimbund wie den Ku-Klux-Klan denken mag. Doch in den Straßen Sevillas und andernorts motiviert religiöse Inbrunst den Schritt vor den Zuschauermassen. Kilometer um Kilometer und Stunde um Stunde, bei denen die Träger der „Pasos“ an ihre Schmerz- und Leistungsgrenzen gehen.
„Pasos“ sind tonnenschwere Aufbauten mit Heiligenskulpturen, einer Maria im Kerzenmeer oder szenischen Darstellungen. Da sieht man Ensembles wie das Letzte Abendmahl, den Judaskuss oder Veronika, die Jesus das Schweißtuch reicht. Schrittchen für Schrittchen schieben sich die Träger voran; vom Gesamtgewicht des „Paso“ entfällt auf jeden Träger leicht ein Zentner.
In der spanischen Karwoche, der „Semana Santa“, brechen Emotionen auf, die sich ein Jahr lang aufgestaut haben. Rückgrat bilden die zahlreichen, über das ganze Land verteilten Laienbruderschaften, die „Cofradías“ oder „Hermandades“. Höhepunkt ist der Karfreitag, doch los geht es mit Prozessionen bereits in der Woche davor am Schmerzhaften Freitag. Den Schlusspunkt setzt gewöhnlich der Ostersonntag.
Jeder einzelne Teilnehmer durchlebt intensiv die Leidensgeschichte Jesu Christi und teilt symbolisch und körperlich den Schmerz des Gekreuzigten. Das hat nichts mit Showtime auf den Straßen zu tun, sondern mit innerstem Gefühl. Deswegen wirkt alles so dramatisch, so intensiv, so an- und aufrührend, selbst in Zeiten des bröckelnden Glaubens. Volksfrömmigkeit bleibt Volksfrömmigkeit. Und Tradition ist Tradition, die in Spaniens Süden von Andalusiern gepflegt wird, die einen besonders ausgeprägten Sinn für das Andächtige haben.
Umhänge und Kapuzen
Die Karprozessionen gehören zu den eindrucksvollsten Erlebnissen im spanischen Festgeschehen. In Andalusiens Hauptstadt Sevilla gibt es mehr als fünf Dutzend große Laienbruderschaften, die sich durch die Farbtracht ihrer Umhänge und Kapuzen sowie ihre kunstvollen „Pasos“ unterscheiden. Manche Bruderschaften zählen mehrere tausend Mitglieder. Von der Kirche in ihrem angestammten Viertel aus brechen die Teilnehmer auf ihre Prozessionswege auf. Sieben Stunden und länger sind sie mitunter unterwegs.
Sevillas älteste Bruderschaften gehen auf das Spätmittelalter zurück. Mittlerweile stehen trotz des Namens Frauen gleichberechtigt ihren Mann und unterwerfen sich bei den „Pasos“ einer schweißtreibenden Millimeter-, Fein- und Teamarbeit: ob unter den Aufbauten hinter kleinen Samtvorhängen versteckt oder mit Schulterpolstern an den Seitenbügeln gerüstet.
Die Trägertätigkeit bedeutet höchste Ehre. Man fiebert dem Ereignis entgegen. Unterwegs darf keine Kerze ins Wanken und Schwanken geraten, kein Blumengebinde, keine Lichterkette. Mitunter gilt es, die Aufbauten haarscharf durch das Portal der Kirche zu manövrieren, selbst auf Knien. Entgegen dem sonstigen lockeren Grunddenken in Spanien, das an Spontaneität gekoppelt ist, bleibt unterwegs nichts dem Zufall überlassen.
Kommandos zum Absetzen und Aufnehmen des „Paso“ wollen ebenso eingespielt sein wie all die Schritt- und Bewegungsabläufe, die Tage und Wochen vor der Karwoche zu Generalproben in den Straßen führen. Gelegentlich geben sich die Träger etwas träger und schieben lieber: mit „Pasos“ auf modernen Rollen. Doch das ist eher die Ausnahme.
Wertvolle Skulpturen
Zaungäste seien vor Enttäuschung gewarnt, denn bei Himmelssturzbächen kommen die „Pasos“ nicht zum Einsatz. Die wertvollen Skulpturen und Ensembles könnten Schäden durch Regen davontragen. Immerhin gehen viele der polychromierten Holzschnitzwerke auf das 17. und 18. Jahrhundert und bedeutende Meister wie Gregorio Fernández und Francisco Salzillo zurück.